Barbara Pfenniger (BP): Kann wissenschaftlich belegt werden,
dass der Nutri-Score gesundheitliche
Vorteile bringt?
Serge Hercberg (SH): Rund 50 Studien aus mehreren Ländern haben gezeigt, dass der Nutri-Score für die Gesundheit der Bevölkerung von Interesse ist. Einige Studien haben bewiesen, dass Menschen, die vorwiegend Lebensmittel mit einer guten Nutri-Score-Gesamtbe- wertung essen, insgesamt einen günsti- geren Nährstoffhaushalt aufweisen. Der mittels Bluttest ermittelte Mineral- und Vitaminspiegel fällt höher aus. Andere grosse Kohortenstudien haben in Zusammenhang mit dem Nutri-Score ein geringeres Risiko für Krebs, Herz-Kreislauf- Erkrankungen, Adipositas, Diabetes etc. aufgezeigt.
BP: Welche Auswirkungen sehen Sie nach
vier Jahren Anwendung in Frankreich?
SH: 90 % der Konsument/innen befürworten
den Nutri-Score und würden ihn
gerne ver- pflichtend eingeführt sehen. Im vergange- nen Jahr gaben 57 % der Konsument/innen an, dass sich dank des Nutri-Score mindes- tens eine ihrer Einkaufsgewohnheiten ge- ändert hat. Einige Supermärkte verfügen
über Statistiken; diese zeigen
auf, dass der Verkauf von Produkten mit den Nutri Scores A und B steigt, während der Verkauf von Produkten mit den
Nutri-Scores D und E zurückgeht. Diese Daten deuten darauf hin, dass der Nutri-Score richtig verstan- den und genutzt wird.
Darüber hinaus zeigen die Informationen der Hersteller, dass sie die Rezepte überarbeitet haben, indem
sie bessere Zutaten wählen. Dabei haben sie ausserdem gewisse Zusatzstoffe entfernt. Dies ist ein eindeutiger Gewinn.
BP: Welche Rolle können die Gesundheits- und Ernährungsfachpersonen einnehmen?
SH: Der Nutri-Score ist ein grafisches Hilfsmit-
tel, das die Zusammensetzung von Le- bensmitteln auf einfache Weise auf deren Verpackung wiedergibt. Er ist
besonders nützlich, um ähnliche Lebensmittel zu ver- gleichen, und dient als Ergänzung zu den
allgemeinen Ernährungsratschlägen und den Empfehlungen
des Gesundheitswe-
sens.
Besonders für Gesundheitsfachper- sonen kann der Nutri-Score in individuel- len Betreuungsstrategien als Werkzeug
von Nutzen sein, insbesondere indem die
richtige Anwendung erklärt
und er als Unterstützung
in der persönlichen Beratung verwendet wird. Die Rolle der Fachperso-
nen ist auch wertvoll, wenn es darum geht, die
Politik vom Nutzen des Nutri-
Score für das Gesundheitssystem zu überzeugen.
BP: Was sind die nächsten
Schritte?
SH: Bereits bei der Einführung des Nutri- Score wurde vorgeschlagen, diesen alle drei Jahre neu zu bewerten, um den wis- senschaftlichen Fortschritten und den Entwicklungen der öffentlichen
Gesund- heit Rechnung zu tragen. Daran arbeiten im Rahmen
des länderübergreifenden Nutri-Score-Lenkungsausschusses Wissen- schafler/innen ohne Interessenbindungen aus den sieben Nutzerstaaten, darunter auch der Schweiz. Ihre Entscheidungen
zur
Verbesserung des Nutri-Score werden auf wissenschaftlicher Grundlage getrof- fen und der
Druck von Wirtschaftslobbys oder Staaten dabei erfolgreich ausge- klammert.
Ausserdem werden ein Bericht der Europäischen Behörde
für Lebensmittelsicherheit (EFSA) [1] über Nährwertprofile und ein weiterer
Bericht des Joint Research Center der Europäischen Kommission erwartet (JRC)
[2]. Diese Dokumente und eine öffentliche Befragung werden die notwendigen
Grundlagen für die Abstimmung der EU- Parlamentarier/innen über das offizielle
EU-Label liefern. Es ist zu hoffen, dass sie den Lobbys nicht klein beigeben,
die mit der Unterstützung Italiens ein einfarbiges und schwer verständliches
Logo (Nutrinform) forcieren, abgeleitet vom GDA-System, das in den
2000er-Jahren von der Industrie eingeführt wurde. Und wir hoffen, dass sie den
Nutri-Score nicht verfremden werden ...
Das Gespräch führte Barbara Pfenniger, Fédération romande des consommateurs (Westschweizer Konsumentenverband)
[1] Der Bericht der EFSA ist zwischenzeitlich
erschienen unter www.efsa.europa.eu/en/news/nutrient-profiling-scientific-advice-eu-farm-fork-initiative
[2] Der Bericht des JRC ist zwischenzeitlich
erschienen unter https://publications.jrc.ec.europa.eu/repository/handle/JRC130125